Was bitte ist Humor?

30. Oktober 2021

Die Antwort auf diese Frage habe ich in eine Geschichte verpackt – veröffentlicht in „Schreibräume“ 2/21.

„Wenn Humor alt wird“

Gemeinsam lachen verbindet in der Regel. Mutter und Tochter wohnen gemeinsam mit der Urgroßmutter, der Urli, in einem Haus und erleben, dass Witze auch Trennscheiben zwischen Generationen und Persönlichkeiten sein können. Die Urli und die Tochter sind einander sehr ähnlich, aber bei der Frage worüber man lachen kann, scheiden sich ihre Geister. Die Erzählerin steht staunend und aufmerksam dazwischen. Es braucht eine gehörige Portion Humor, um das alles lustig zu finden.

Der Witz und der Generationenkonflikt

Es ist sieben Uhr in der Früh. Meine Tochter, Urli und ich trinken in der Küche Kaffee. Urli macht das freiwillig, wir beide nicht. Sie ist eine heitere Frühaufsteherin, wir beide sind das nicht. Urli ist zweiundneunzig Jahre alt und hat blaue Augen. Das Lachen von Jahrzehnten hat sich in fröhlichen Falten um ihre Augen eingegraben. Nicht alle meine Falten sind fröhlich und mein Kind hat noch keine.

Urli ist richtig alt, und die Witze, über die sie lacht, manchmal auch. Einige haben einen Bart bis zum Boden. Wer bitte schön lacht heute noch über diesen Uhrenwitz? „Wo hast du denn deine Armbanduhr gelassen?“ „Ach, die geht immer vor, die ist sicherlich schon zu Hause.“ In Urlis Kopf läuft eine Armbanduhr auf dünnen Beinen und wehenden Uhrzeiger nach Hause. Sie lacht darüber, selbst achtzig Jahre nachdem sie ihn das erste Mal gehört hatte. Meine Tochter nicht. Sie hat keine Armbanduhr, wollte nie eine. Sie hat ein Handy mit automatischer – und immer korrekter – Uhrzeit-Anzeige. In ihrem Kopf läuft keine Comic-Uhr mit verbissenem Gesicht nach Hause. Sie lächelt dennoch bleibt höflich und revanchiert sich. „Chuck Norris würzt seine Steaks mit Pfefferspray.“ Urli blinzelt verwirrt. „Wer ist Tschak Noriss und warum ist das witzig?“, erwartungsvoll schaut sie meine Tochter an. Die zückt ihr Smartphone. Ich verstecke mich hinter der Zeitung, Chuck-Norris-Videos am frühen Morgen, soviel Humor habe ich nicht.

Die drei Generationen zwischen den beiden werden zu Lichtjahren, wenn Urli Witze mit dem N-Wort erzählt. So wie jetzt. Ja, sie benützt dieses Wort noch, höhnisch grinsend, widerborstig. Jedem Versuch, ihr zu vermitteln, dass das heute als abwertend gilt, begegnet sie mit einem Wortschwall. Er beginnt mit: „Ich war schon immer und werde immer Antifaschistin und Antirassistin sein. Ich war im Widerstand …“, und endet mit: „Ich kann sagen, was ich will, ich bin ein freier Mensch. Außerdem hab‘ ich noch nie jemandem diskriminiert.“ Meine Tochter greift sie mit sprachpolizeilicher Härte an. „Das kannst du gar nicht behaupten. Du weißt ja gar nicht, wie es ist, farbig zu sein.“ Der Konter kommt schnell: „Du aber auch nicht, also sprich nicht für diese Menschen.“ Die Stimmung zwischen den beiden wird schlagartig kriegerisch. Witze erzählen ist nicht immer eine lustige Angelegenheit, erkenne ich.

„Aber im Gegensatz zu dir komm‘ ich aus einer Generation, die sich Gedanken über Unterdrückung macht und wie die durch Sprache vermittelt wird. Ich versteh‘ besser als du, wie Diskriminierung funktioniert. Euch war das ja wurscht!“. Bumm. Irgendwie bin ich stolz auf mein Mädchen, aber nur irgendwie. Sie spielt sich auf, wie jemand aus der intellektuell-moralischen Elite. Die allwissende Gedankenpolizei, missionarisch und nahezu humorlos, immer auf der Suche nach Gruppen, die sie retten können, denke ich. Mein Kind ist unfähig zu erkennen, dass Urli uns beiden gelehrt hat, Ungleichheit überhaupt zu erkennen. Die Diskussion wird hitzig und laut. Das Temperament, das den Frauen unserer Familie eigen ist, wird bald mit ihnen durchgehen. Zuerst wird die Urli sarkastisch und dann die Enkelin beleidigt sein. Das muss ich verhindern, sonst habe ich in den nächsten Stunden keine Ruhe. „Wer seine Gefühle kontrollieren kann, hat keine.“ (Paul Cohelo), sage ich in die Stille einer Atempause. Ironie wirkt, die beiden trinken ihren Kaffee aus – verschnupft, aber ruhig.

Humor braucht kein Publikum

Urli und ich sitzen im Garten, lehnen uns an die warme Hausmauer. Unser Ritual nach dem Mittagessen, wir trinken Tee und rauchen eine Zigarette. Die erste des Tages, am Abend werden wir die zweite rauchen. Kontrollierte Sucht ist besser als gar keine, sagt Urli. Die frühe Nachmittagssonne scheint auf unsere Gesichter, behagliche Ruhe umgibt uns. Jetzt ist die Gelegenheit eine Frage zu stellen, die mich schon lange beschäftigt. „Sag‘ mal, hilft dir dein Humor beim Altwerden?“ „Ja schon, aber öfter noch der Humor der Anderen.“, gibt sie grinsend zur Antwort. Ich muss lachen, typisch Urli.

Versonnen schauen wir den Bienen im Kirschbaum zu. Die ersten Blütenblätter segeln wie Schneeflocken zu Boden. „Was ist eigentlich Humor für dich?“, fragt sie mich. Lange muss ich nicht nachdenken: „Die Fähigkeit, Situationen gleichzeitig aus mehreren Blickwinkeln sehen zu können. Ich find so neue Lösungen. Außerdem meine ich, dass Humor ohne einen Schuss Selbstironie, nicht echt ist.“ Urli nickt: „Du meinst aus Scheiße Kompost machen zu können. Ja, dem kann ich viel abgewinnen.“ Diese eigenwillige Zusammenfassung ist ihr Lebensmotto – und meins, denke ich. Ich schließe meine Augen, die Sonne wärmt mich und ich sinne über das Leben meiner Urli. Flucht aus Rumänien, Krieg, Kinderkurier im Widerstand, Lager, Tod ihrer großen Liebe. Das alles in den ersten achtzehn Jahren ihres Lebens. Mein Gott, denke ich, welche Kraft und Energie muss sie aufgewandt haben, um weiterzumachen. Danach wurde es etwas besser, aber nur ein kleines bisschen. Die Arbeit als Assistentin des Vorstands unterbrochen durch die Geburten von zwei Kindern, die Geliebte, die plötzlich vor der Tür stand, das Ersparte das plötzlich verschwunden war, die Delogierung, die nur mit Mühe abgewendet werden konnte. Das Bild meines Großvaters taucht vor mir auf. Groß, charmant und Alkoholiker, der sich immer wieder der Verantwortung als Ehemann und Vater entzog. Dass Urli darunter litt, erkannte man an ihrem Humor, der dann dunkler wurde. Seufzend erzählte sie uns oft den Witz vom Unterschied zwischen einem ungarischen und einem rumänischen Juden: beide verkaufen ihre Großmütter, aber der rumänische liefert nicht. Wir Kinder wussten genau, was damit gemeint war. Mit fünfzig ließ sie sich scheiden und bat ihren Sohn um Hilfe. Der war dreißig, hatte eigene Pläne und eigene Sorgen. Wütend und traurig warf sie ihm Karl Kraus ins Gesicht „Das Wort Familienbande hat einen Beigeschmack von Wahrheit.“ Sie warf die Wohnungstüre krachend zu und zog vorübergehend zu einer Freundin. In einem Alter, wo sich andere schon in die Pension träumen, startete Urli zum Erstaunen aller nochmals durch. Sie wechselte die Seiten und wurde freigestellte Betriebsrätin im Vorstand eines Konzerns.

Ich drehe mich zu ihr. „Wie war das eigentlich, als Papa dich nicht bei uns einziehen ließ? Das muss dir doch unglaublich weh getan haben?“, frage ich. Urli sieht mich an „Ja. Er hat mir damit beigebracht, dass die Märchenprinzen alle schon tot sind. Das habe ich offensichtlich gebraucht. Weißt, ohne diese Wut und diese Enttäuschung hätte ich mein Leben nicht neu sortiert. Ohne diesen Stress hätte ich mich nie einer Wahl gestellt, ich hätte mich nie getraut. Ich denk‘ gut alt werden hat damit zu tun, dass man nicht aufgibt, Neues zu erfahren.“ Sie nimmt ihre Teetasse und geht langsam zurück ins Haus. Ich zücke mein Handy und beginne zu recherchieren. Kann es sein, dass Humor bei Stressbewältigung hilft? Ja, sagen die Psychologen. Humor schafft Kapazitäten und neue Energie für Problemlösungen, lese ich. Die Erkenntnis des Nachmittags, Humor ist eine Grundhaltung zum Leben und wir drei der lebende Beweis dafür, jede auf ihre Art.

Lachen ist nicht immer erlaubt

Es ist später Nachmittag, meine Tochter ist von der Uni zurück. Sie bringt die Post und legt ein Kuvert auf die Kommode. Urli hat Linzer Torte gebacken, ein Friedensangebot an die Junge. Sie sitzen friedlich in der Küche und reden. Ich traue dem Frieden nicht, stelle mich hinter die Türe und höre kurz zu. Sie diskutieren über das Lachen. Na, das kann ja lustig werden. Ich schnappe mir einen Teller Torte und setze mich zu ihnen. Meine Tochter erzählt, dass sie heute in der U-Bahn einen Burschen mit Ohrhörern gesehen hat, der immer wieder laut und schallend gelacht hat. „Ich hab‘ ihn dann gefragt, ob er sich ein Hörbuch reinzieht. Ich find Männer, die Bücher mögen sexy. Männer die lachen, auch.“, sagt sie. „Und stell dir vor, es war tatsächlich so. ‚Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand‘, das müssen wir auch lesen, Urli, ist ja fast dein Alter.“, grinst meine Tochter. „Ich finde, in der Öffentlichkeit laut lachen, das macht man nicht.“, sagt Urli und ignoriert den Buchtipp. „Aber wieso denn? Er stört ja niemandem und außerdem ist Lachen etwas Positives.“, antwortet mein Kind. „Man ist in der Öffentlichkeit einfach nicht laut. Außerdem gehen fremden Menschen meine Gefühle nichts an. Man schreit nicht, man weint nicht und man lacht nicht laut.“, Urli widerspricht kategorisch. Meine Tochter ist friedlich: „Ist ein bisschen altmodisch, Urlilein. Aber ich versteh‘ was du meinst. Man darf nicht überall und nicht über alles lachen. Stimmt’s? Was hast du immer gesagt? Wer heut über die Fehler anderer lacht, macht morgen die gleichen.“ Je älter Urli wird, desto heftiger reagiert sie auf Schadenfreude. „Man lacht nicht über das Unglück anderer. Du bist ja so für die Armen und Schwachen, du müsstest das ja verstehen.“, ätzt Urli. Die Linzer Torte entfaltet ihre Wirkung. „Urli, nicht alles ist ein Unglück und über Missgeschicke darf man schon lachen. Ich lach‘ ja auch über meine eigenen.“, bleibt meine Tochter sanft, aber unnachgiebig. Ein Themenwechsel muss her, Zucker und Marmelade wirken nicht ewig. „Haben alle die lachen, Humor?“, frage ich. „Natürlich nicht. Rechte lachen auch, aber sind voll humorlos.“, antwortet die Jüngere. „Sehr richtig. Alle, die eine Ideologie vertreten, die andere klein macht und abwertet, können keinen Humor haben, die sind nur zur Schadenfreude fähig.“, Urli nickt heftig und streichelt liebevoll die Hand ihrer Urenkelin. Der Generationenkonflikt in Sachen Lachen ist beigelegt – vorerst.

Sitcoms sind für alle Generationen heilsam

Es ist Abend, die zweite Zigarette ist geraucht. Die Küche zusammengeräumt. Der Brief – adressiert an Urli – liegt noch immer unbeachtet auf der Kommode. Wir drei sitzen gemütlich in unseren Lieblingsecken im Wohnzimmer. Urli im Lehnstuhl, meine Tochter und ich lümmeln am Sofa, die Beine am Couchtisch. Zwischen uns Chips und ein kühles Glas Veltliner, vor uns eine Diskussion über das Abendprogramm. Wir drei lieben Sitcoms, nein, nicht dieselben. Urli mag die Golden Girls, meine Tochter steht auf Seinfeld und ich liebe Phoebe aus Friends. An einem weinseligen Abend haben wir drei einmal darüber philosophiert, warum wir so gerne amerikanische Comedys schauen. Meine Tochter hat es auf den Punkt gebracht: „Es ist der kleinste gemeinsame Humornenner von uns Dreien.“ Urli widersprach. „Unsinn, es ist leicht, es ist lustig und darum lenkt es uns ab.“ Ich habe den Widerspruch nicht verstanden, das eine schließt das andere doch nicht aus. Mit meiner Meinung habe ich hinter dem Berg gehalten, sonst hätten die beiden anderen mich wieder als Klugscheißerin bezeichnet. Ich finde nämlich, wir leben in einer Gesellschaft mit Vollkommenheitswahn und der hat seine Spuren auch bei uns hinterlassen. Ich finde mich beispielsweise zu dick, meine Tochter gibt eine Unmenge von Geld für reine Haut aus, und unsere Urli bräuchte ein Hörgerät. Wenn wir uns die Serien mit ihren unvollkommenen Helden und Heldinnen reinziehen, dann schaffen wir Distanz. Das erleichtert für eine Weile und gemeinsam Lachen entspannt sowieso.

„Habe ich schon erwähnt, Urli ist Jüdin. Kennen Sie den Unterschied zwischen einer jüdische Mamme und einem Terroristen? Mit Terroristen kann man verhandeln. Wir schauen Golden Girls. Wieder mal, das braucht jetzt Erdnüsse und noch ein Glas Wein. Urli und meine Tochter sind sich darüber einig, dass ich Dorothy – einer der vier Protagonistinnen – sehr ähnlich bin. Ich finde nicht, keiner der Charaktere passt zu mir, aber ich bin machtlos gegen meine beiden. Seufzend lehne ich mich zurück, es kommt ihre Lieblingsszene: Sophia, die Mutter von Dorothy, kommt nach einer Irrfahrt nach Haus und sagt zu ihrer Tochter: „Ich habe fünf Kondome in meiner Tasche. Du kannst sie haben, die reichen für den Rest deines Lebens.“ Urli und meine Tochter lachen und prusten gleichzeitig los. Und nein, die beiden haben nicht Recht. So dick bin ich nicht, dass ich nur mit fünf auskommen werde. Sie werden schon sehen.

Freud hat Recht – dieses Mal

Ich mache Kaffee, auf mein obligatorisches Butterbrot verzichte ich. Die Kalorien von Wein und Erdnüssen müssen bis Mittag reichen. Ich stelle die Tassen auf den Tisch, mache Porridge für meine Tochter, bestreiche ein Briochekipferl mit Erdbeermarmelade für Urli. Die Morgensonne macht Flecken am Küchentisch, es riecht gut. Meine Tochter und Urli kommen in die Küche, küssen mich liebevoll auf die Wangen. Meine Großmutter nimmt den Brief von der Kommode, setzt sich nieder und öffnet ihn umständlich. Die Sonne verschwindet, bald wird es regnen. Urli nimmt die Brille ab und lehnt sich zurück. Sie nimmt die Tasse in die Hand und nippt an ihrem Kaffee. Irgendetwas ist los, ihre morgendliche Heiterkeit ist nur mehr ein schwaches Strahlen. Meine Tochter und ich schauen sie erwartungsvoll an. „Ich war beim Arzt, der Befund ist da.“, sie sagt nichts weiter. Ich nehme ihr das Kuvert aus der Hand. Sie hat offensichtlich ein paar Tests gemacht. Der Begleitbrief fasst es zusammen, sie hat Alzheimer im Anfangsstadium. Mein Kind und ich haben manchmal über ihre Vergesslichkeit gewitzelt, sie aber nicht wirklich ernst genommen. Jetzt schauen wir uns entgeistert an. „Na ja, wenigsten vergess‘ ich jetzt meine Angst vor Krebs.“, sagt Urli.

Humor ist der reifste Abwehrmechanismus und Zeichen von Charakterstärke, sagt Sigmund Freud.

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