Von der Illusion des Rechthabens

16. November 2021

„Ich habe gewusst, dass Wirecard abstürzen wird.“ … Nein, gewusst hat man das nicht, vielleicht geahnt oder befürchtet oder möglicherweise sogar geglaubt, aber nicht gewusst.

Wir neigen dazu, Tatsachen – auch im Nachhinein – mit unserer Haltung, unseren Werten und Überzeugungen in Übereinstimmung zu bringen. Gelegentlich mit einer brachialen Verzerrung der Realität. Das erklärt die unfassbar vielen Menschen, die es im Nachhall einer Katastrophe immer schon gewusst haben. Psychologen nennen das „Rückschaufehler“. Aber eigentlich ist es eine Gedächtnisoptimierung. Die aktuellen Informationen überfluten unser Gehirn und drücken unsere Erinnerungen offensichtlich an die Gehirnwand. Wir vergessen einfach, wie wir zu unserer ursprünglichen Meinung gekommen sind.

Aus einer anderen Perspektive betrachtet: wir bewerten das Ergebnis und nicht den Prozess, wie es dazu gekommen ist. Wir bewerten nicht den seinerzeit vorhandenen Kenntnisstand, sondern das aktuelle Wissen. In der Rückschau sind wir besonders kritisch – zu uns und zu den anderen. Warum habe ich nicht sehen wollen, dass der Projektleiter unqualifiziert ist? Warum hat man nicht früher begonnen mRNA-Impfstoffe zu produzieren?

Führungskräfte, PolitikerInnen und Fußballtrainer sind häufig von Rückschauverzerrungen betroffen. Diese Gruppen müssen damit rechnen, im Nachhinein oft und kritisch beurteilt zu werden. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sie in der Regel besonders vorsichtig entscheiden – ausgenommen vielleicht die Fußballtrainer.

Konzentrieren wir uns kurz auf Führungskräfte. Die sichern ihre Entscheidungen mit zusätzlichen Gutachten ab oder mit komplizierten Genehmigungswegen, die möglichst viele Personen umfassen. Oder indem sie Entscheidungen hocheskalieren, um sie nicht treffen zu müssen. Zur persönlichen Risikovermeidung oder -minimierung gibt es erstaunlich viele Instrumente. Die meisten minimieren allerdings nicht das Risiko für die Organisation und sind somit Ressourcenverschwendung.
Rückschaufehler passieren nicht nur in eine Richtung: Wir applaudieren beispielsweise EntscheidungsträgerInnen, die mit unverantwortlichem Risiko erfolgreich sind sehr lange – siehe Wirecard.

Die Illusion des Rechthabens die in der Nachschau entsteht, verursacht also beträchtlichen wirtschaftlichen Schaden. Kann man das verhindern? Nein. Das menschliche Gehirn funktioniert nun mal so. Man kann nur die Wahrscheinlichkeit eines Schadens reduzieren. Einerseits indem Personalverantwortliche „Reflexionsvermögen“ ganz oben auf die Liste der sozialen Kompetenzen von Führungskräften setzen. Andererseits indem sich EntscheidungsträgerInnen aktiv um eine positive Fehlerkultur bemühen.

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