Warum wir nicht objektiv sein können – eine Buchempfehlung

29. November 2021

Wenn Sie mit mir ausgiebig diskutieren wollen, dann müssen Sie nur feststellen: Ich entscheide objektiv und rational. Ich bin der Meinung, dass der Mensch das nicht kann. Nein, wirklich nicht. Deswegen erfindet er ja Maschinen wie 3-D-Kameras in medizinischen Diagnosegeräten, die alle Faktoren erfassen und anzeigen. Oder Regeln die Schwankungsbreiten bei Entscheidungen reduzieren sollen, wie z.B. Normen zur Durchführung wissenschaftlicher Experimente.

Die Beurteilung wie gut man entscheidet, ist ein heikles Thema – besonders für Führungskräfte. Situativ die richtigen Entscheidungen zu treffen, gehört schließlich zu ihren Kernkompetenzen. Ein interessantes Buch zum Thema haben Kahneman, Sibony und Sunstein vorgelegt. Noise beschäftigt sich wissenschaftlich mit den unterschiedlichen Einflüssen auf unser Urteilsvermögen. Zu lesen, wie amerikanische Richter (und wahrscheinlich auch Richterinnen) vom sonntäglichen Footballspiel beeinflusst werden, tut fast weh. Und bevor jetzt irgendeiner denkt, dass beträfe nur AmerikanerInnen, weil eh schon wissen …, der denke nur an den letzten Amtsweg.

Von öffentlichen Institutionen erwarten wir eine faire und gleiche Behandlung. Mittlerweile gibt es ausreichend Studien darüber, wie der persönliche Zugang von Beamtinnen und Beamten, beispielsweise zu Migration, die Beratung beeinflusst. Weniger bekannt ist das Ausmaß der Streuung von Entscheidungen und ihrer wirtschaftlichen Auswirkungen.  Die negativen Folgen sind branchenunabhängig. Gleichartige Reklamationen beispielsweise, die sehr unterschiedlich gehandhabt werden, schaden dem Image, erhöhen das Risiko von Folgereklamationen und verursachen vermeidbare Kosten – im Pflegeheim und im Möbelhandel gleichermaßen.

Kahneman et al unterscheiden zwischen Noise und Bias. Letztere sind kognitive Verzerrungen die durch unsere spezifische Art uns zu erinnern, zu denken und zu bewerten, entstehen. Beispielsweise kann die ablehnende Haltung zum Islam von Beamten in der Einwanderungsbehörde die Asylentscheidungen beeinflussen. Noise hingegen beschreibt ein Grundrauschen von Verzerrungen, das sich aus der Situation, der Umgebung und dem individuellen Befinden zusammensetzt. Riecht es gut, ist das Wetter schön, funktioniert die Verdauung … diese und noch viel mehr Faktoren beeinflussen unsere Entscheidungen. Viele unterschiedliche Einflussfaktoren sind gleichbedeutend mit einer breiten Streuung der Meinungen und Entscheidungen. Das ist vielleicht auf der Plattform für Restaurantkritiken interessant und hilfreich, aber nicht bei der Berechnung von Versicherungsprämien.

In der Regel haben Unternehmen eine Reihe von Maßnahmen zur Risikominimierung, beispielsweise Leitfäden zur Rekrutierung und Einstellung neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Diese Vorgaben sind grundsätzlich geeignet, Verzerrungen zu minimieren. Es lohnt sich aber, gerade diesen Bereich genauer unter die Lupe zu nehmen. Ziel ist in der Regel, die passenden Personen für das Team und die Aufgabe zu finden. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass sich gar nicht so wenige Personalentscheidungen – im Nachhinein – als suboptimal herausstellen. Suboptimale Personalentscheidungen verursachen Kosten, ungelöste suboptimale Personalentscheidungen verursachen – zum Teil hohe – Folgekosten. (Zum Glück für die Verantwortlichen werden Reibungsverluste aufgrund schlechter Kommunikation nicht mit Euros bewertet.)

Wie in jedem amerikanischen Wirtschaftsbestseller ist auch in diesem die Grundlage für ein neues Beratungsangebot gelegt – dem Noise Audit. Ich bin zwiegespalten. Nicht, weil das grundsätzlich keinen Sinn macht, sondern weil man zunächst einmal ohne viel Kostenaufwand andere sinnvolle Maßnahmen – ganz ohne Beratungsunternehmen – einführen sollte. Ein gutes Noise Audit setzt gute Datenqualität voraus, braucht wissenschaftliche Qualifikationen und ist aufwändig.

Ich persönlich habe zwei Methoden, um Verzerrungen bei Entscheidungen zu minimieren. Eine sichtbare – die andere gelegentlich in die Verzweiflung treibt – ist die simple Frage: „Wie wäre es, wenn das Gegenteil stimmt?“. Je reifer das Team, desto konstruktiver die Diskussion. Und eine unsichtbare, eine aufwändige, die ich mit mir ausmache. Ich war übrigens milde enttäuscht, als ich erfahren musste, dass sie keine Erfindung von mir ist. Diese Methode hat sogar einen Namen, „der 10. Mann“ und kommt angeblich vom israelischen Geheimdienst. (Sagt meine Tochter, die ihr Wissen vom Film World War Z hat.)

Also ich stelle bei wichtigen Entscheidungen alle Entscheidungsfaktoren infrage. Für jeden einzelnen suche ich Zahlen, Daten, Fakten und Argumente dagegen. Ich persönlich finde es sinnvoll, das schriftlich zu dokumentieren. Danach mache ich eine Pause, am besten ist es darüber zu schlafen. Ich mache das seit vielen Jahren und beobachte zwei Phänomene an mir, zum einen ändere ich danach die Entscheidungen immer, zwar fast nie grundsätzlich, sondern in Details, z.B. zum Ablauf. Zum anderen bin ich mir auch im Alltag der Verzerrungen bewusster – meiner eigenen und die der anderen.

Jedenfalls, ich finde das Buch interessant. Viele Erkenntnisse beim Lesen, wünsche ich.

 

 

 

 

 

5 Comments

  1. Danke für den Tipp! Ich wollte mir das Buch schon kaufen, nach dieser Lesempfehlung werde ich das machen!

    • Gekauft.
      Danke für den Tipp!

    • Sehr gerne. Du kannst auch warten, bis Thomas Maurer ein Kabarettprogramm draus macht. Bei „schnelles Denken, langsames Denken“ ist ihm das gut gelungen.

  2. Ich lese Deinen Blog sehr gerne, es motiviert mich immer wieder meinen Horizont zu erweitern und Dinge aus mehreren Perspektiven zu betrachten. Danke für den Tipp!!

  3. Danke für die vielen Perspektiven, von denen ich alle direkt in meinen Arbeitskontext mitnehme! Buch kommt auf die Wunschliste…

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