Der hohe Anspruch der Achtsamkeit

12. November 2021

Die Begeisterung um „Achtsamkeit in der Führung“ ist verständlich. Achtsame Führungskräfte – so wird kommuniziert – sind lösungsorientiert, erfolgreich, entspannt – und irgendwie auch die besseren Menschen.

Was ist eigentlich Achtsamkeit? Nun, es geht um eine bewusste und konzentrierte Wahrnehmung die so intensiv ist, dass alle anderen Gedanken versiegen.

Probieren Sie es einmal, es ist gar nicht so einfach. Ich bin sicher nicht die einzige, dies sich schwer tut, minutenlang nur im Hier und Jetzt zu sein. Mir schwirren unzählige Gedanken durch den Kopf. Ich bin gleichzeitig in der Gegenwart, der Vergangenheit und in der Zukunft: der Kaffee ist aus, meine Tochter hat das Licht im Vorzimmer nicht ausgeschalten, die Präsentation für morgen ist nicht fertig, ich sollte… .

Achtsam sein heißt im Jetzt sein, heißt fühlen und nicht bewerten. Also die westliche Spielart der Meditation mit der asiatischen Wirkung von Wohlbefinden und Entspanntheit.

Apropos asiatisch, mir hilft Yoga – aber nur manchmal. „Relax your monkey mind.“, sagt meine Yoga-Lehrerin immer am Anfang einer Stunde. Meine Gedanken, die wie Affen von Baum zu Baum turnen, hören allerdings erst dann auf, wenn ich mich – nachdem ich zum dritten Mal aus der Gleichgewichtsübung gefallen bin – endlich auf Bewegung und Atmung konzentriere.

Und jetzt kommt die schlechte Nachricht: selbst wenn sie das gelegentlich hinkriegen, heißt das nicht, dass Ihnen das notwendiger Weise im Führungsalltag hilft. Ihr „monkey mind“ macht Ihnen vermutlich selbst in schwierigen Gesprächen einen Strich durch die Rechnung. Und nein, ich rate jetzt nicht zu Yoga. Sonnengruß und herabschauender Hund sorgen in diesen Situationen zweifellos für Aufsehen, sind aber wenig hilfreich.

Für mich ist „achtsam sein“ ein so unerreichbarer Anspruch wie „ich bin nie wieder ungeduldig“. Aber ich habe etwas Anderes gefunden was mir hilft lösungsorientiert und gelassen zu sein. Für mich ist das einfacher als die achtsame Meditation. Ich konzentriere mich auf den oder die Menschen im Raum.

Was haben sie an? Wie sprechen sie und wie sind ihre Handbewegungen. Was weiß ich eigentlich über sie? Wie stehen sie zueinander in Beziehung? Ist das wichtig für mich? Was genau ist ihr Standpunkt, sind ihre Beweggründe? Welche Schwierigkeiten haben sie gerade mit mir? Was kann ich dagegen tun?

Diese Konzentration ist ein Akt des Respekts und des Interesses. Ganz nebenbei vollziehen Sie eine Perspektivenwechsel – und der ist immer interessant und meistens hilfreich.

Wenn Sie das können, entsprechen sie zwar nicht unbedingt dem Ideal des achtsamen Menschen, sie sind aber jedenfalls eine gute Führungskraft.

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